Woher kommt die Herleitung von Befehlen eigentlich? Wie kann es sein dass es so viele Auslegungen gibt?
Der Quran ist eigentlich im historischen Kontext zu lesen woher kommen also Bestimmungen und wie kommt es dass diese so weit schon fast nach Belieben?
Gespeichert von am Mo., 19/09/2016 - 06:06
Liebe Leserin, lieber Leser,
viele der Gesichtspunkte in der Fragestellung drehen sich um die Auslegung des Qurʾān und dass dieser im geschichtlichen Kontext ausgelegt werden müsste, da er deutlich auf geschichtliche Ereignisse zurück zuführen sei. Das ist keine neue Meinung in der Diskussion. Denn die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Islam, hauptsächlich im Rahmen der Islamwissenschaft beschäftigt sich schon seit jeher mit diesen Fragen und es bilden sich verschiedene Unterdisziplinen heraus. Eine dieser Disziplinen die vielleicht interessant sein könnte ist der "Asbāb an-nuzūl" also die Umstände/Gründe der Überlieferung. Hier wird überprüft und näher bestimmt, welches Ereignis etwa der Anlass für die Sendung war. Eine weitere Disziplin ist die "al-ʿĀmm wa-l-khāṣṣ" also die Generalität und die Spezialisierung. Hier wird untersucht wie weitreichend und allgemein ein Gebot im Qurʾān ist, oder ob dieser auf etwas spezifisches hinweist. Hier treten dann auch wieder historische Kontexte für die Betrachtung auf, diese haben zweifelsohne also ihren Platz im Diskurs um die Auslegung des Qurʾān. Unter diesen wissenschaftlichen Disziplinen und unter dieser Sensibilität haben wir eine wahre Füllmenge an Interpretationen und Auslegungen. Dies zeugt nur weiter davon, welch unerschöpfliche Quelle der Qurʾān eigentlich ist. Auch dies ist eine Disziplin oder ein Forschungsobjekt der Islamwissenschaft. Der "Iʿǧāz al-Qurʾān" also die Unnachahmlichkeit des Qurʾān beschreibt dogmatisch-theologisch, dass der Qurʾān sprachlich sowie inhaltlich unübertroffen ist und folglich nicht von Menschenhand abstammen kann, also in sich ein zeitloses Wunder darstellt. Hier sind auch historische Kontexte interessant, da die alten Araber vor allem in der Schrift und in der Rhetorik sehr weit waren. Die arabischen Dichter der damaligen Zeit waren hoch angesehen und folglich wurden sie vom Qurʾān herausgefordert. Sie unterlagen ihm jedoch. Es wäre wohl nicht falsch zu behaupten, das rhetorische Niveau zur damaligen Zeit war höher als zur heutigen Zeit, wodurch die Unnachahmlichkeit des Qurʾān aus dem historischem Blick nochmal ein gewisses Gewicht bekommt. Der Qurʾān und die Beschäftigung damaliger Gelehrten und Theologen war also weitaus wissenschaftlicher als man heute denken mag, wenn man sich die heutige islamische Gemeinde anschaut. Es ist in dem Sinne erwähnenswert dass die Hochkultur und die Blütezeit des Islam mit der intensiven und kritischen Auseinandersetzung mit dem Qurʾān einher geht. Als man sich allmählich mit dieser intensiven und wissenschaftlich kritischen Auseinandersetzung des Quran entfernte, kam auch die Hochkultur des Islam abhanden. Siehe heute.
Man kann den Text nun schier unendlich auslegen oder debattieren kann. Rein theoretisch ist dies auch der Fall, denn der Qurʾān ist eine Offenbarung, die an alle Menschen gerichtet ist und daher niemanden als Leser ausschließt. Jeder Leser liest letztendlich aber auch anders. Der Islam ist auch kein starres von oben aufgezwungenes Konstrukt oder eine Gesetzgebung. Der Islam bietet dem Individuum unter gewissen Rahmenbedingungen die Entfaltung, denn der Islam ist eine Offenbarungsreligion, die aber den Verstand nicht ignoriert. Vor allem ist der Islam auch keine Religion, die die Menschen zu etwas was ihnen möglich ist, zwingen würde. So spricht man in wissenschaftlichen Kreisen auch oft davon, dass es "den einen Islam" nicht gäbe, da die islamische Welt eine solch große kulturelle Vielfalt aufweist. Der Islam in Pakistan kann sich mitunter vom Islam in Istanbul unterscheiden.
Jetzt kann man sich sicher fragen, wenn dem denn so sei, woher kann man überhaupt Anleitungen zur Praxis entnehmen und wie sollte man sich auf diese verlassen können? Im Islam gibt es vier Rechtsquellen diese sind der Qurʾān und die Sunna als primäre Quellen und der Konsens (Iǧmāʿ) und der Analogieschluss (Qiyās) als sekundäre Quellen. Die damaligen Gelehrten zeichnen sich durch eine beispiellose Frömmigkeit und einen überragenden Intellekt aus. Ein Gelehrter wie "Elmalili" Muhammed Hamdi Yazir ist neben seiner intensiven theologischen Ausbildung z.B. auch in anderen Disziplinen so versiert, dass er die dortige Primärliteratur in der jeweiligen Sprache überaus gut beherrscht und sogar in der jeweiligen Sprache Kritik dazu verfassen kann. Daher haben diese in der islamischen Welt allgemein einen hohen Stellenwert und eine hohe Autorität. So sind diese Gelehrten, die sich mit kaum was anderem in ihrem Leben beschäftigen, dazu in der Lage solche Diskussionen zu führen und den Qurʾān auszulegen. Ihre Lehrmeinungen werden mehrheitlich anerkannt, da ihnen eine intensive Arbeit beiwohnt, sie eine hochgradige Kompetenz aufweisen und ihre Lehrmeinung mehrheitlich positiv rezipiert wird. Diese Mechanismen kennen wir aber auch aus unseren sozialen Gefügen. Wenn wir etwas über Quantenphysik erfahren wollen, wenden wir uns an den Professor der Physik in einem Institut und nicht dem Verkäufer am Kiosk. Falls beide was Unterschiedliches behaupten würden, würden wir tendenziell dem Professor glauben schenken, da er aus diesem Fachbereich kommt und folglich mehr weiß als der Kiosk-Verkäufer. Warum sollte sich dies in theologischen Belangen anders verhalten? So gibt es im islamischem Rechtswesen den Bereich des "Fiqh" also der Rechtslehre. Hier gibt es traditionell 4 Rechtsschulen, die aus den Offenbarungen und den Geboten Anleitungen für die Praxis entnehmen und hier Fragen klären. Welche Zustände heben z.B. den Zustand des Fastens aus? Dies wäre eine Frage für diesen Bereich. Weiter gibt es den Bereich der "ʿUṣūl al-fiqh" also den Quellen der Rechtslehre. Hier beschäftigt man sich damit, wie man überhaupt zur Rechtsfindung kommen kann und welche Quellen oder Methoden dafür in Frage kommen. Es gibt kaum eine Frage die hier noch nicht behandelt wurde, so weist der Islam ein sehr ausgeprägtes Rechtswesen vor und so gut wie alle Fragen zur Praxis wurden oder werden institutionell beantwortet.
Was passiert aber, wenn man all dies und die daraus hervorgegangene Arbeit einfach ignoriert und stattdessen auf eigener Faust etwas deklariert? Das Potenzial eine falsche Entscheidung zu treffen ist wesentlich größer. Sport ist z.B. für viele ein Hobby und sogar auch ein Lebensstil oder der Beruf. Sport ist dabei auch etwas, was man im positivem Sinne für die körperliche und mentale Gesundheit tut, somit kann der Islam dies befürworten. Der Muslim ist aber primär immer Muslim, andere soziale Rollen wie etwa "Vater", "Sohn" oder "Arbeitsgeber" sind immer Anhängsel. Der Muslim ist nämlich zu jeder Zeit in der Audienz Gottes und hat seine Pflichten zu befolgen. Der Muslim kann also wegen eines Beschlusses auf dem Arbeitsplatz nicht einfach seinen Glauben an der Tür aufhängen und seine Pflichten ignorieren. Nur Extremsituationen, die die Existenz der Menschen gefährden, wie z.B. eine Kriegssituation erlaubt es Pflichten auf ihr Minimum zu fahren. Andere Situationen aufgrund derer der Mensch schlicht nicht dazu in der Lage ist (z.B. gesundheitliche Behinderungen) haben eine ähnlichen Konsequenz. So ist es durchaus als absurd zu benennen, dass man aus dem Qurʾān heraus dafür argumentieren wollte, für ein Fußballspiel seine religiösen Pflichten zu vernachlässigen. In der Realität käummt das aber häufiger mal vor.
Wir wollen aber zum Schluss noch auf einen anderen Punkt hinweisen: Der Mensch ist fehlerhaft. Dem Menschen wurde das Potenzial zu fehlerhaftem Verhalten gegeben. Es geht nämlich nicht darum, dass man ein fehlerfreies Leben lebt und immer die exakt richtigen Entscheidungen trifft. Islam wird oft mit Hingabe übersetzt und das ist das wichtigste und zugleich einzige Element um ein Muslim zu werden. Wenn man sich wahrhaftig und reinem Herzens zum islamischen Glaubensbekenntnis bekennt, ist man ein Muslim. Wie sich dieser Muslim dann verhält und was er sagt oder tut entscheidet dann darüber, was für eine Art Muslim er sein wird. Auch der Schüler ist sobald er in der Schule formal eingeschrieben ist, ein Schüler dieser Schule. Erst sein Verhalten wird darüber Auskunft geben können was für ein Schüler er ist, den Status des Schülers hat er aber trotzdem. So kann es gute Muslime geben und auch schlechte. Man kann auf aufrichtige Muslime treffen und auf trügerische oder gar Hochstapler. Dies sind allerdings Fehler der Menschen und nicht des Islams.
Man sollte daher immer zwei Ebenen zusammen zu führen. Sie sollten sich einmal die dogmatisch-theologische Ebene vor Augen führen und einmal die faktisch vorhandene also die praktisch ausgeübte Ebene. Eine isolierte Betrachtung einer Ebene, ohne dabei die andere Ebene zu berücksichtigen kann jedoch zu Unstimmigkeiten und logischen Blockaden führen.
Fragen an den islam
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- Tu ich das Richtige, wenn ich jemanden immer zum Gebet ermahne?
- Was mache ich wenn ich in der Schule oder Universität nicht beten darf?
- Islam und Pädagogik- Einige Grundgedanken
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- Q
- Wie geht der Islam mit Umweltsfragen und Tierschutz um?
- Ist die Gleichstellung von Mann und Frau überhaupt noch ein relevantes Thema?
- Wie der Islam die Natur und Umwelt wahrt