Was versteht man unter dem Begriff „Bidʿa“? Gibt es je nach Rechtsschule unterschiedliche Auffassungen diesbezüglich?

Antwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

das Wort Bidʿa bezeichnet fachspezifisch jegliche nachträgliche Neuerungen und Etablierungen in der Religion, sofern sich diese auf die ʿAqīda (Glaubenslehre) oder auf gottesdienstliche Handlungen (ʿIbādāt) beziehen. So ist also jede spätere Zufügung und Erfindung im Bereich der Gottesdienste sowie auch jede vom ehrenwerten Propheten (s.a.s.) untersagte Glaubensweise und Gebetsform als Bidʿa („verwerflichen Neuerung“) zu betrachten.

Es ist nicht möglich unterschiedliche Verständnisse der Bidʿa-Thematik ausschließlich nach Rechtsschulen zu kategorisieren, da nicht jede Rechtsschule eine für sich typische und einheitliche Meinung vertritt. Auch innerhalb einer Rechtsschule haben Gelehrte verschiedene Auffassungen zum Begriff Bidʿa. Generell sind zwei unterschiedliche Zugänge zu finden, wobei ersterer Zugang den Begriff Bidʿa mit Blick auf seine linguistische Bedeutung zunächst umfassender betrachtet und letzterer Zugang ein im Vergleich dazu engeres Verständnis vertritt:

a)

Gelehrte wie Imām aš-Šāfiʿī, Imām an-Nawawī und hanafitische Gelehrte wie Ibn ʿAbidīn betrachten den Begriff Bidʿa zunächst als Bezeichnung für alle Arten von Neuerungen, Entwicklungen und Erfindungen sowohl im Bereich religiöser Angelegenheiten als auch in
allen anderen Bereichen des menschlichen Lebens. So findet sich bei ihnen inhaltlich die Beschreibung: „Bidʿa ist all das, was nach dem Gesandten Gottes (s.a.s.) aufgekommen ist.“ Demnach ist für sie zunächst einmal die linguistische/semantische Bedeutungsebene von Relevanz, sodass Bidʿa also erst einmal ein weit gefasster Begriff ist und sowohl Neuerungen in den Aspekte der Religion als auch neuartige Praktiken und Bräuche aus dem alltäglichen Leben bezeichnet. Diesbezüglich wird folgende Überlieferung als Hinweis angeführt:

„Wer meine Sunna aufrechterhält und den Menschen dazu verhilft sich nach ihr zu richten, der wird ohne Abstriche denselben Lohn derer erhalten, denen er zur Ausübung der Sunna verholfen hat. Und wer eine Neuerung erfindet und Schuld daran hat, dass andere nach dieser Bidʿa handeln, dem werden ohne Abstriche dieselben Sünden derer auferlegt, denen er zur Ausübung dieser Bidʿa verholfen hat.“ (Ibn Māǧa, Muqaddima, 15)

Gleichzeitig unterscheiden diese Gelehrten aber spezifisch betrachtet die Bidʿa in zwei Kategorien: die gute Neuerung (bidʿa ḥasana), und die verwerfliche Neuerung (bidʿa sayyi’ah). So sind beispielsweise Dinge wie der Bau von Minaretten und Medressen gute, erlaubte Neuerungen, auf Gräbern Kerzen anzuzünden dagegen verwerfliche Neuerungen. Demnach handelt es sich bei den in den Überlieferungen des Propheten (s.a.s.) thematisierten Neuerungen (Bidʿa) um die Kategorie der verwerflichen Neuerungen (bidʿa sayyi’ah). Als ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb (r.a.) sieht, dass in der Prophetenmoschee (al-masǧid an-nabawī) das tarāwīḥ-Gebet gemeinschaftlich verrichtet wird, soll er auf gute und gebilligte Neuerungen (bidʿa ḥasana) hinweisend gesagt haben: „Welch schöne Neuheit (Bidʿa) dies ist.“ (Buḫārī, Tarāwīḥ, 1) Dies betonend konstatiert aš-Šāfiʿī:

„Die Neuerung (Bidʿa) unterscheidet sich in zwei Arten, in gut (ḥasana) und verwerflich (sayyi’ah). Eine Neuerung, die sich mit der Sunna deckt und ihr entspricht ist lobenswert; eine Neuerung, die der Sunna widerspricht ist hingegen verwerflich. (Vgl. Ibn Taymiyya, al- Furqān bayna Awliyā’ ar-Rahmān wa-Awliyā’ aš-Šayṭān, 1, S.126)

Der Gelehrte Bediüzzaman Said Nursī, der zur Gruppe der Gelehrten gehört, die den Begriff Bidʿa prinzipiell nicht unterscheiden und nur bei Neuerungen in religiösen Angelegenheiten von Bidʿa sprechen, verknüpft beide Positionen wie folgt:

„Neuerungen im Bereich gottesdienstlicher Normen sind Bid’a. Da diese somit dem Wesen des Verses „Heute habe Ich euch eure Religion vervollkommnet und meine Gnade an euch vollendet“ (al-Māʾida 5:3) widersprechen, sind sie verwerflich und
abzulehnen.“ (RNK, Lem'alar, S. 609)

„Jede Strömung und Gemeinschaft (wie etwa Sufi-Bruderschaften) hat individuelle Arten
und Formen des ḏikr und tasbīḥ (Lobpreisung und Gebetsformeln). Solange diese als zusätzliche Lobpreisungsformen betrachtet werden, auf Koran und Sunna basieren und nicht im Widerspruch zur Sunna stehen, zählen sie nicht als Neuerung (Bid’a). Auch wenn manche Gelehrte diese als Bid’a benennen, bezeichnen sie sie als bidʿa ḥasana (gute, erlaubte Neuerung).“ (RNK, Lem'alar, S. 56)

So sagt er beispielsweise bezüglich der Praxis, dass in manchen Moscheen und Gebetsstätten Haarsträhnen des Bartes oder der Haare des ehrenwerten Propheten (s.a.s.) ausgestellt werden, sodass diese zu bestimmten Zeiten von Menschen besucht und betrachtet werden, folgendes: „Auch wenn manche fromme Autoritäten dies mit Blick auf Vorsicht, Frömmigkeit und Edelmut kritisieren, kritisieren sie dies personenbedingt und im Spezifischen. Selbst wenn sie es als Neuerung sehen, ist es als gute, erlaubte Neuerung (bidʿa ḥasana) zu betrachten, da es Anlass zur Lobpreisung (ṣalawāt) des Propheten bietet. (RNK, Lem'alar, S. 637)

b)

Bei Gelehrten, die den Begriff Bidʿa enger fassen, wie unter anderem Imām Mālik sowie die schāfiʿitischen Gelehrten al-Baihaqī, Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī und Ibn Ḥaǧar al-Haitamī, die hanafitischen Gelehrten Badr al-Dīn al-ʿAynī und Imam Birgivi und der hanbalitische
Gelehrte Ibn Taymiyya, findet sich sinngemäß und inhaltlich die Definition: „Bidʿa bezeichnet jegliche Neuerungen in religiösen Angelegenheit nach dem Ableben des Gesandten Gottes (s.a.s.), die Zufügungen oder Abstriche in der Religion darstellen.“ Diesem Verständnis nach fallen allerart Neuerungen ohne religiösen Charakter gar nicht erst unter die Kategorie Bidʿa, sodass neue Gewohnheiten und Bräuche außerhalb des Begriffs Bidʿa behandelt werden. Diese Ansicht stützt sich auf Überlieferungen wie:

„Das Schlimmste sind die nachträglich erfundenen Dinge.“ (Muslim, Ǧumʿa, 43)

„Jede Neuerung (Bidʿa) ist Irrtum.“ (Muslim, Ǧumʿa, 43)

„Hütet euch vor den neu eingeführten Dingen, denn alles Neueingeführte ist eine Neuerung (Bidʿa) und jede Neuerung ist Irregehen. So haltet fest an meiner Sunna und an der Sunna meiner vorbildhaften rechtgeleiteten Kalifen.“ (Abū Dāwūd, Sunna, 5)

So weisen aus Sicht dieser Gelehrte derartige Überlieferungen - welche die Bidʿa als schlecht, verwerflich, Feuer und Irregehen darstellen - daraufhin, dass diese Thematik sich lediglich auf theologische Aspekte und Angelegenheiten der Religion beschränkt.

 

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