Zwischen Tradition und Moderne - Rechtsfindung im Islam

 

Religion hat vielerorts die Neigung sich mit dem was viele unter „Kultur“ verstehen zu vermischen. Das hat damit zu tun, dass der Mensch tendenziell eine Orientierung und ein System braucht um sein alltägliches Leben zu regulieren. So kann man häufig beobachten, wie Menschen eine Sitte oder einen Brauch als religiöse Pflicht verstehen und entsprechend auch nach außen darstellen, obwohl es dazu keine textlichen Belege gibt. Aus religionswissenschaftlicher Sicht ist dies kein unübliches Verhalten. Wenn das Neue auf das Alte trifft und dabei entsprechende Kompatibilitäten erkannt werden, kommt es nicht selten vor, dass diese Kompatibilitäten auch überleben oder überlebensfähig bleiben. Dies erkennt man auch an der Verbreitung des Islams aus historischer Perspektive. Die Offenbarungsgeschichte des Islams ist beispielweise keine komplett eigene und neue Geschichte, sie ist vielmehr die Weiterführung einer einzigen Offenbarungstradition, welche sich auch in frühen jüdisch-christlichen Quellen wiederfinden lässt. Mit der Entsendung und dem Wirken des ehrenwerten Propheten (s.a.s.) wurden verwerfliche Traditionen abgeschafft beziehungsweise reformiert, löbliche Traditionen hingegen beibehalten. Die Primärquellen des Islams sowie seine geschichtliche Entfaltung billigt prinzipiell also diesen Umstand. In unserer Gegenwart jedoch kann man leider häufig beobachten, wie der Begriff „Tradition“ (gemeint ist kulturelle Tradition, nicht die Tradition islamischer Wissenschaften) in diesem Sinne fehlinterpretiert wird. Tradition und Religion wird häufig auf eine falsche Art und Weise vermengt. In manchen Familien übt zum Beispiel der Vater teilweise extreme Restriktionen aus und beruft sich dabei vermeintlich auf seinen Glauben, in Wahrheit führt er jedoch lokal verbreitete Traditionen fort. In Hochzeiten von vielen jungen Menschen erkennt man neumodische Traditionen und Bräuche, deren Einhaltung der Wahrnehmung nach sogar über dem Einhalten von religiösen Pflichten zu stehen scheint. So stellt sich diesbezüglich die Frage, inwiefern derartige Phänomene sowie die Begriffe Tradition, Brauch, Sitte und Gewohnheit vor dem Hintergrund islamischer Quellen und Verständnisse zu betrachten sind. Auf diesen Aspekt soll im Folgenden detaillierter eingegangen werden, da derartig komplexe Themen facettenreiche Diskussionen ermöglichen und nicht mit monokausalen Erklärungen ausreichend erfasst werden können. 

In Gesellschaften gibt es sowohl materielle als auch spirituelle Eigenschaften und Gewohnheiten, die mit der Zeit aufkommen und Akzeptanz finden. Es sind Handlungs- und Verhaltensweisen, welche von früheren Generationen übernommen werden und sich in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens etablieren. Zunächst kann nicht pauschalisierend jede von früheren Generationen übernommene Denkweise und Sitte als verwerflich oder definitiv nutzbringend bezeichnet werden. Während mancherlei Bräuche und Traditionen zu Degenerationen und zur Trägheit innerhalb einer Gesellschaft führen können, erweisen sich andere als nützlich für den Fortbestand und die Harmonie des sozialen Lebens. 

In früheren Jahrhunderten wurden Gewohnheiten und Bräuchen eine größere Rolle beigemessen. Die Etablierung eines auf der geistigen und wirtschaftlichen Situation der Menschen abgestimmten Rechts- und Normensystems anhand normativer Prinzipien schien den Menschen erschwert, weshalb Gewohnheiten und Traditionen die Quelle für Grundsätze des sozialen Lebens bildeten. Deshalb machten unterschiedliche Zivilisationen sich bestimmte Traditionen zu eigen und richteten sich nach ihnen. 

Bräuche und Gewohnheiten können folglich grundlegend sein und lassen sich in starker Abhängigkeit zu den Bedürfnissen, Werten und Kapazitäten der jeweiligen Gemeinschaft beziehungsweise Gesellschaft wahrnehmen. Sie sind dynamisch und entwickeln sich mit der Gesellschaft mit. Gleichzeitig können Gewohnheiten und Traditionen die Defizite und Lücken von Rechtssystemen kompensieren, weshalb Menschen sich in Angelegenheiten zu denen keine rechtlichen Bestimmungen durch die Justiz formuliert wurden, an den vorherrschenden Gewohnheiten und 

Bräuchen orientieren. Daher wird das kulturelle Gewohnheitsverständnis häufig als Referenz und Quelle bei der Etablierung von Gesetzen betrachtet. 

Vor dem Hintergrund dieser Charakteristika hat sich in der islamischen Normenlehre das sogenannte Gewohnheitsrecht unter der Bezeichnung „ʿUrf“ etabliert. Der ʿUrf gehört zu den sekundären Rechtsquellen und berücksichtigt die in einer Gesellschaft gegenwärtigen Gewohnheiten, Traditionen, Bräuche und Sitten. Zur Bezeichnung dieser werden häufig die Begriffe ʿUrf (dt. Gewohnheit) und ʿĀda (dt. Brauch, Sitte) verwendet, die in erster Linie synonym gebraucht werden. Nichtsdestotrotz unterscheidet sich der ʿUrf von der ʿĀda insofern, als dass ʿĀda jeden bei Individuen oder Gemeinschaften auftretenden Brauch und Usus bezeichnet. ʿUrf ist eine Form von ʿĀda und impliziert die Sitten und Bräuche eines Volkes beziehungsweise einer Gesellschaft in Wort und Tat. 

(Vgl. Muḥammad Fārūq al-Nabhān, İslâm Anayasa ve İdare Hukukunun Genel Esasları, übers. von Servet Armağan, İstanbul 1980, S. 241-339) 

Die islamischen Gelehrten definierten ʿUrf und ʿĀda sinngemäß etwa wie folgt: 

„Regelmäßig praktizierte Dinge in der Bevölkerung, die dem gesunden Menschenverstand übereinstimmend entsprechen.“ 

Des Weiteren ist es beim ʿUrf wichtig darauf zu achten, dass er „der islamischen Normgebung und der Vernunft entsprechend gutartig ist und nicht als schädlich erachtet wird.“ (Vgl. Yusuf Kerimoğlu, Kelimeler Kavramlar, İstanbul 1983, S. 139) 

Viele Bräuche und Sitten die während der Verbreitung des Islam in entsprechenden Bevölkerungen und Gesellschaften als Gewohnheiten etabliert waren, wurden sofern sie als gut und nützlich wahrgenommen wurden so belassen. Auf diese Weise führte es zur Berücksichtigung des ʿUrf in der islamischen Normenlehre. (Vgl. Osman Öztürk, Osmanlı Hukuk Tarihinde Mecelle, İstanbul 1973, S. 7) 

Die während des Aufkommen des Islam in Arabien vorhandenen Sitten und Bräuche wurden kategorisiert, sodass je nach Entsprechung manche abgelehnt, manche reformiert und manche akzeptiert wurden. 

Jedes Land beziehungsweise Volk hat eigene nationale Werte und Gewohnheiten. Mit dem Islam im Widerspruch stehende Gewohnheiten abzuwenden und den Grundprinzipien des Glaubens nicht widersprechende Gewohnheiten weiterzuführen, ist ein vom Islam begrüßter Aspekt. 

 

ʿUrf 

ʿUrf ist ein als Gewohnheitsrecht verstandener Begriff, der sich in der islamischen Normenlehre etabliert hat. Sprachlich werden folgende Bedeutungen darunter verstanden: Güte, Gutmütigkeit, Kenntnis, Bekanntschaft, das von Verstand und Glaube als gut erachtete; Pferdemähne; hohe Stelle; Welle, Geduld; mit Hilfe des Verstands bei Menschen Akzeptanz findende und der gesunden Vernunft entsprechende wörtliche und praktische Gewohnheiten. (Vgl. Abū Sunnah, al-ʿUrf wa'l- ʿĀda, Kairo 1947, S. 8; al-Ǧurǧānī, Kitāb at-Taʿrīfāt, Dersaadet 1283, S. 99) 

Pluralformen von ʿUrf sind „Aʿrāf“ und „ʿUraf“. ʿUrf kann auch eine situationsbedingte Beurteilung und Handlungsweise bezeichnen, welche sich nicht zwangsläufig im Recht manifestieren muss. (Vgl. Âsım Efendi, Kamus Tercemesi, İstanbul 1305, III, S. 674; al-Muʿǧamu l-Wasīṭ, II, S.601) 

 

Definitionen mancher zeitgenössischer islamischer Rechtsgelehrte sind wie folgt: 

„ʿUrf bezeichnet allen bekannte Aussagen und Handlungen, welche mit der Tradition weitergetragen und praktiziert werden“ (Vgl. al-Hallaf, al-Masādir, Kuwait 1970, S. 145) 

„ʿUrf bezeichnet die durch die islamische Bevölkerung akzeptierten, sich angewöhnten und täglich berücksichtigten Worte und Taten.“ (Vgl. Zaidān, al-Waǧīz, Bagdad 1967, S. 215) 

„ʿUrf meint die mehrheitlich akzeptierten und zur Angewohnheit gewordenen Angelegenheiten und jene Aussprüche, bei denen man an nichts anderes denkt wenn man sie hört als an das, wofür die Aussage gewöhnlich verwendet wird.“ (Vgl. Zakiyyuddīn aš-Šaʿbān, Uṣūl al-fiqh al-Islamī, übers. von İbrahim Kafi Dönmez, Ankara 1990, S. 175) 

Wie hervorgeht wird unterschieden zwischen Sprachbrauch (ʿurf qaulī) und Handlungsbrauch (ʿurf ʿamalī). Beispielsweise können unter ʿurf ʿamalī Dinge wie der Einkauf von Gegenständen (Brot, Zeitung, Zeitschrift usw.) verstanden werden, bei dem auch ohne Sprachgebrauch Geld bezahlt und im Gegenzug die Ware entgegengenommen wird. Ebenso zählt z.B. der Usus, dass man die Miete zum fälligen Datum vollständig bezahlt, zu einem ʿurf ʿamalī. Wenn zum Beispiel das Wort „Kind“, welches sowohl weibliche als auch männliche Kinder bezeichnet, in einer Gemeinschaft oder Kultur nur im Zusammenhang mit männlichen Kindern verwendet wird, also darunter nur „Junge“ verstanden wird, so spricht man hier von einem ʿurf qaulī

Das Wort ʿĀda ist eine Substantivform aus der Wortwurzel „a-w-d“, was so viel bedeutet wie „zurückkehren von wo man kommt“. ʿĀda bezeichnet eine Handlung, welche regelmäßig ausgeführt wird und zur Gewohnheit geworden ist. So wird beispielsweise die Menstruation der Frau manchmal auch als ʿĀda bezeichnet, da diese in bestimmten Zyklen nach und nach auftritt. (Vgl. Mehmet Şener, İslâm Hukukunda Örf, İzmir 1987, S. 104-105) 

ʿUrf und ʿĀda werden in der islamischen Normenlehre synonym verwendet. Die Begriffe Taʿāmul und Istiʿmāl werden ebenfalls in diesem Sinne gebraucht. ʿUrf und ʿĀda können im Allgemeinen folgendermaßen definiert werden: Es sind schriftlich nicht fixierte und als normativ erachtete Prinzipien, die in der Gesellschaft etabliert sind und seit jeher Anwendung finden, weshalb sie als bindend im normativen Sinne gelten. (Vgl. Zahit İmre, Medenî Hukuka Giriş, İstanbul 1976, S. 166). 

Das Wort ʿUrf kommt zwei Mal im gnadenreichen Koran vor. Im Vers „gebiete mit ʿUrf“ (al-Aʿrāf 7:199) bezeichnet es das aus islamischer Sicht Gute und Vernünftige. Dies ist gleichzeitig auch eine Bedeutung von Maʿrūf. Des Weiteren kommt der Begriff im Vers „wa-l-mursalāti ʿurfan“ (al-Mursalāt 77:1) vor, welcher sinngemäß „Bei denen, die nacheinander (wie eine Mähne) gesandt werden.“ Bedeutet. (Vgl. Muḥammad ibn Manẓūr, Lisān al-ʿArab, IX, S.239) 

Der Begriff ʿUrf kommt im Koran und den Hadithen eher in seiner Partizip-Passiv-Form „Maʿrūf“ vor. Diese bezeichnet die Güte sowie Jenes, was vom Glauben und der Vernunft als gut erachtet wird. In dieser Form kommt die Bezeichnung an 39 Stellen im Koran vor. (Vgl. M. Fuʿād ʿAbd al-Bāqī, al-Muʿǧam al-Mufahras fī Alfāẓ al-Qurʾān al-Karīm, Kairo 1958, Artikel „ʿUrf“) 

In der islamischen Normenlehre und ihrer Methodologie (Fiqh und Uṣūl al-fiqh) werden Normen aus den vier kanonischen Rechtsquellen abgeleitet. Diese sind der Koran, die Sunna, der Konsens (al- Iǧmāʿ) und der Analogieschluss (al-Qiyās). Diese werden auch als al-adilla al-arbaʿa (vier Quellen) oder als adillatu l-aḥkām (Rechtsquellen) bezeichnet und stellen die sogenannten Primärquellen dar. 

Zusätzlich zu diesen Quellen die als Hauptreferenzen zur Ableitung von islamischen Normen dienen, werden weitere Hilfsquellen herangezogen. Zu diesen Sekundärquellen gehören unter anderem: der Istiḥsān („Billigkeitserwägung“), der Istiṣlāḥ („Orientierung am Gemeinwohl“), das Sadd aḏ-ḏarāʾiʿ („Versperren der Mittel zum Verbotenen“), der Istiḥāb („Fortgeltung der Grundnorm“), der ʿUrf („Berücksichtigung von Gewohnheitsrecht“), šarʿu man qablanā („Normgebungen vor unserer Zeit“) und qawl aṣ-ṣahabī („Aussage eines Prophetengefährten“). 

Demnach ist ʿUrf eine Rechtsquelle sowie eine Referenz im Islam. So sagte der verehrte Prophet (s.a.s.) sinngemäß: „Was die Menschen für gut halten, das ist auch bei Allah gut.“ (Musnad Aḥmad ibn Ḥanbal, I, 379) 

In der Majalla (Mecelle-ʾi Aḥkām-ı ʿAdlīye), einer Kompilation normativer abstrakter Rechtssätze des osmanischen Reiches, zeigen folgende Rechtssätze die Relevanz des ʿUrf im intersubjektiven Umgang: 

„Das durch ʿUrf etablierte gilt wie eine Bedingung.“ (Artikel 43) 

„Festlegung durch ʿUrf ist wie eine Festlegung durch Textbeleg zu beurteilen“ (Artikel 45) 

 

Kategorien des ʿUrf mit Blick auf ihre Verbindlichkeit: 

Damit der ʿUrf als Gewohnheitsrecht eine normative Referenz darstellen kann muss er gültig sein. Daher spricht man vom gesundem, gültigen Brauch (ʿurf ṣaḥīḥ) und schlechtem, verwerflichen Brauch (ʿurf fāsid): 

1. ʿUrf ṣaḥīḥ: Bräuche und Sitten die nicht im Widerspruch zum Koran und zur Sunna stehen und somit ihnen entsprechen werden dieser Kategorie zugeordnet. So wird beispielsweise bei Streitigkeiten zwischen Ehepartnern bezüglich der Fälligkeit der Entrichtung (bei oder nach Eheschließung; Gesamt- oder Ratenzahlung) der Brautgabe (al-mahr) ein Rechtsgutachten in Anlehnung an den vorherrschenden ʿUrf gegeben. (Vgl. al-Hallaf, al-Masādir, S. 146; Vgl. Zaidān, al-Waǧīz, S. 215; Hamdi Döndüren, Delilleriyle İslâm İlmihali, İstanbul 1991, S. 36) 

2. ʿUrf fāsid: Jene Bräuche und Sitten die einem Koranvers oder einem Hadith widersprechen und somit als ungültig beziehungsweise verwerflich gelten, werden dieser Kategorie zugeordnet. Beispielsweise können Alkoholkonsum und Zinswucher zu einem verbreiteten Brauch in einer Region gehören. Ebenso das gemeinsame Feiern von sich fremden Frauen und Männern auf Hochzeitsfeiern, Verlobungsfeiern oder ähnlichen Veranstaltungen, sofern nicht auf entsprechende Bekleidungsvorschriften (tasattur) und Diskretion geachtet wird. Diese Gewohnheiten und Sitten stehen im Widerspruch zum Islam und sind somit verwerflich. Selbst wenn diese sich innerhalb einer gesamten muslimischen Gesellschaft ausbreiten würden, würden sie keine Gültigkeit und Legitimität erhalten. Jeder Gläubige hat sich und seine Umgebung vor solchen Gewohnheiten zu schützen. (Vgl. Ibn ʿĀbidīn, Našru l-ʿUrf, II, S.116; Zaidān, al-Waǧīz, S. 216) 

Der in der islamischen Jurisprudenz als Referenz geltende ʿUrf ṣaḥīḥ wird mit Blick auf seine Verbreitung wiederum in zwei Kategorien unterteilt. Dem allgemeinen Brauch (ʿurf ʿāmm) und dem speziellen Brauch (ʿurf ḫāṣṣ): 

1. ʿUrf ʿāmm: Gewohnheiten, Sitten, Bräuche und Traditionen, die keiner lokalen und sozialen Begrenzung unterliegen und in allen Regionen jahrhundertelang gegenwärtig für die Muslime waren, sind dieser Kategorie zuzuordnen, da sie nicht auf eine einzelne Gesellschaft oder Region zu begrenzen sind. Der seit den Prophetengefährten bis in die heutige Zeit berücksichtigte und von Gelehrten in ihren iǧtihādāt (pl. von iǧtihād; Bemühung zur Meinungsfindung) als Referenz betrachtete ʿUrf ist von dieser Kategorie. (Vgl. Ibn ʿĀbidīn, Risalātu l-ʿUrf, II, S.124; Ali Haydar, Dürerul-Hükkâm Şerhu Mecelletil-Ahkâm, İstanbul 1330, I, S.93-94) 

Ein hierfür sehr bekanntes Beispiel ist der sogenannte ʿaqd al-istiṣnaʿ (etwa: handwerklicher Kundenauftrag). Seit früheren Zivilisationen gibt es bei den Menschen den Brauch, die Herstellung einer Sache in Auftrag zu geben. Somit schließt man einen Kaufvertrag mit beispielsweise einem Handwerker über die Anfertigung eines Gegenstands. Nun ist der Verkauf einer nicht vorhandenen Sache jedoch durch den Propheten (s.a.s.) untersagt worden. (Vgl. Abū Dāwūd, Buyūʿ, 68; at-Tirmidhī, Buyūʿ,19; an-Nasāʾī, Buyūʿ 60; Ibn Māǧa, Tiǧārāt, 20; Aḥmad ibn Ḥanbal, III, 402) 

Obwohl die oben beschriebene Art des Verkaufes also einer allgemeinen Untersagung zu widersprechen scheint, wurde diese Art des Produktionshandels von der großen Mehrheit der Rechtsgelehrten unter Berücksichtigung des in diesem Falle vorliegenden ʿUrf als legitim betrachtet. 

2. ʿUrf ḫāṣṣ: Bei Bräuchen, Redewendungen und Sitten die spezifisch in einzelnen Gesellschaften, Völkern oder Regionen gegenwärtig sind spricht man vom ʿurf ḫāṣṣ. Beispielsweise wurde der Begriff „ad-Dābbah“ (dt. Tier) im irakischen Kulturraum eher speziell für die Bezeichnung eines Pferdes gebraucht. Ebenso die regionalbedingte schriftliche Buchhaltung von Händlern statt des Heranziehens eines Zeugen als Beweismittel bezüglich eines Verkaufs oder Schulden kann in diesem Sinne als ʿurf ḫāṣṣ verstanden werden. 

Im Koran und der Sunna gibt es Angelegenheiten die dem ʿUrf überlassen werden. 

Beispiele zu Angelegenheiten im Koran: 

1. Im Islam hat der Mann für den Unterhalt der Familie, also seiner Ehefrau und Kinder zu sorgen. Der Koran nennt diesbezüglich keinen konkreten Betrag und überlässt dies dem ʿUrf: 

„Und demjenigen (Vater), der das Kind gezeugt hat, obliegt es, für die Versorgung und Kleidung der Mutter in sittlicher Weise/anerkannter Handhabung (bi-l-maʿrūfi) aufzukommen. Keiner Seele wird mehr auferlegt, als sie zu leisten vermag.“ (al-Baqarah 2:233) 

„Der Wohlhabende soll entsprechend seinem Vermögen die Aufwendungen gestalten. Und wem der Unterhalt bemessen zugeteilt wurde, der soll von dem ausgeben, was Gott ihm hat zukommen lassen. Gott fordert von einem nur das, was Er ihm hat zukommen lassen. Gott wird nach der schwierigen Lage Erleichterung schaffen.“ (aṭ-Ṭalāq 65:7) 

Hieraus wird ersichtlich, dass die Unterhaltszahlungen des Ehemannes den Bedürfnissen seiner Ehefrau genügen und der finanziellen Handhabung des Ehemannes entsprechen sollen. (Vgl. as-Saraḫsī, Kitāb al-Mabsūṭ, Beirut 1978, V, S.181; Uṣūl al-fiqh, I, S.237; al-Ǧaṣṣāṣ, Aḥkām al-Qur’ān, Istanbul, Istanbul 1947, I, S.404; Hamdi Döndüren, Delilleriyle İslâm Hukuku, İstanbul 1983, S. 294ff.) 

Auch der Unterhalt der Kinder richtet sich nach dem ʿUrf. So fragte Hind bt. ʿUtba, die Ehefrau von Abū Sufyān b. Ḥarb, den Propheten (s.a.s.) danach, ob sie ohne ihren Mann zu fragen von seinem Besitztum nehmen und ausgeben darf, da dieser nicht genug Unterhaltsausgaben für sie und ihre Kinder vornahm. Der Prophet (s.a.s.) antwortete: 

„Du darfst von seinem Besitztum nehmen wie viel für dich und deine Kinder dem ʿUrf entsprechend nötig ist.“ (Buḫārī, Buyūʿ, 95; an-Nasāʾī, Quḍāt, 31; Ibn Māǧa, Tiǧārāt, 65; ad- Dārimī, Nikāḥ, 54) 

2. Die Entlohnung einer Amme beziehungsweise Nährmutter (für ihr Stillen eines Kindes) wird ebenfalls dem ʿUrf entsprechend getätigt. So heißt es in einem Vers: 

„… Und wenn ihr eure Kinder (von einer Amme) stillen lassen wollt, so ist darin keine Sünde für euch, sofern ihr das, was ihr geben wollt, dem ʿUrf entsprechend aushändigt …“ (al-Baqarah 2:233) 

3. Der Sorgeberechtigte eines Waisenkindes darf sofern er selbst in Armut lebt, vom Besitz des Waisenkindes (was ihm an Besitz hinterblieben ist) dem ʿUrf entsprechend ausgeben: 

„Und prüft die Waisen, bis daß sie das Heiratsalter erreicht haben. Und wenn ihr dann an ihnen Besonnenheit feststellt, so händigt ihnen ihren Besitz aus. Und zehrt es nicht verschwenderisch und voreilig auf, bevor sie älter werden. Und wer nicht darauf angewiesen ist, soll sich enthalten; wer arm ist, soll in dem ʿUrf entsprechend davon zehren. Und wenn ihr ihnen dann ihren Besitz aushändigt, so nehmt Zeugen vor ihnen …“ (an-Nisāʾ 4:6) 

Schließlich wird deutlich, dass der in den Koranversen verwendete Begriff „maʿrūf“ sich je nach Zeit, Lokalität und Gesellschaft ändern kann und sich auf die in einer Gesellschaft etablierten und akzeptierten Bräuche und die Sitten bezieht. (Vgl. Abū Sunnah, al-ʿUrf wa'l- ʿĀda, S.49) 

Beispiele zu Angelegenheiten in der Sunna: 

1. In einem Hadith heißt es sinngemäß: 

„Was die Muslime für gut erachten ist auch bei Allah gut.“ (Aḥmad ibn Ḥanbal, I, 379) 

Der berühmte Gelehrte Šams al-Aʾimma (Sonne der Imame) as-Saraḫsī legt diesen Hadith wie folgt dar: „Dem Analogieschluss (Qiyās) nach wäre es nicht erlaubt, eine Produktion auf Bestellung (ʿaqd al-istiṣnaʿ) zu beauftragen, da dies der Verkauf einer nicht vorhandenen Sache wäre, was wiederum untersagt wurde. Dennoch gibt es diesbezüglich einen Brauch (ʿUrf) der seit der Zeit des Propheten (s.a.s.) etabliert ist, weshalb wir statt des Analogieschlusses (Qiyās) den ʿUrf als Referenz nehmen und Verträge wie den ʿaqd al-istiṣnaʿ beziehungsweise Produktionsaufträge als erlaubt erachten. Dies geht aus dem Hadith „Was die Muslime für gut erachten ist auch bei Allah gut (Aḥmad ibn Ḥanbal, I, 379) hervor. (Vgl. as-Saraḫsī, Kitāb al-Mabsūṭ, XII, S.181; Uṣūl al-fiqh, II, S.203

2. Die (bereits oben genannte) vom Propheten (s.a.s.) an Hind bt. ʿUtba, die Ehefrau von Abū Sufyān, gerichtete Antwort zeigt, dass sich die Unterhaltszahlungen eines Mannes an seine Ehefrau und Kinder nach dem ʿUrf richten: 

„Du darfst von seinem Besitztum nehmen wie viel für dich und deine Kinder dem ʿUrf entsprechend nötig ist. (Buḫārī, Buyūʿ, 95; Muslim, ʿAqdiyya, 7; Abū Dāwūd, Buyūʿ, 79) 

Es gibt zahlreiche weitergeführte Bräuche und Sitten aus der Zeit der ǧāhilīya, welche vom Islam überholt und reformiert wurden. Diese sind im beispielsweise Bereich des Handels, der Pfändung und Hypothek, der Ehe und der Erbschaft wiederzufinden. Bräuche die verwerflich und schädlich sind, wie etwa der Zinswucher, das Glücksspiel sowie das Töten weiblicher Kinder durch lebendiges Vergraben (aufgrund einer Abneigung gegenüber weiblichen Nachkommen) hat der Islam verboten und abgeschafft. 

 

Änderung der Bestimmung durch Änderung im ʿUrf: 

Bei einem Iǧtihād (Normfindung durch eigenständige Bemühung) den der Gelehrte auf eine ʿUrf- Referenz stützt, ist es offensichtlich, dass durch eine Änderung dieses spezifischen ʿUrfs (der dem Kontext des jeweiligen Gelehrten entspricht) der Iǧtihād seine Referenz verliert. So beschreibt Ibn ʿĀbidīn: 

„Normative Angelegenheiten (Bestimmungen) stützen sich entweder auf einen klaren Textbeleg (Koranvers oder Hadith) oder kommen durch raʾy und Iǧtihād (Bemühung um eigenständige Urteilsfindung) zustande. Bei den meisten normativen Angelegenheiten dieser Kategorie orientierte sich der jeweilige Muǧtahid (zum Iǧtihād befugter Gelehrte) am ʿUrf seiner Zeit. Wenn dieser Muǧtahid in der Zeit des gegenwärtig vorherrschenden ʿUrf leben würde, so würde er eine andere, seiner vorherigen Ansicht widersprechende Meinung vertreten. Daher haben die Gelehrten es als eine der Bedingungen des Iǧtihād angesetzt, die Bräuche und Sitten der Menschen ihrer Zeit zu kennen. Mit dem Voranschreiten der Zeit ändern sich viele normative Bestimmungen. Würden diese Bestimmungen unverändert in ihrer vorherigen Form weiterbestehen, würden sie sowohl dem Volk Last und Schaden bereiten als auch den Prinzipien der islamischen Normgebung widersprechen, welche die Etablierung von Erleichterung und Ordnung sowie die Prävention von Beeinträchtigungen und Chaos zum Ziel haben. Deshalb haben die Gelehrten verschiedener Rechtsschulen ihren Vorgängern (in manchen Angelegenheiten) widersprochen. Denn sie wussten, dass die vorherigen Gelehrten ebenfalls wie sie gedacht hätten, wenn diese in der selben Zeit wie sie gelebt hätten. (Vgl. Ibn ʿĀbidīn, Risalātu l-ʿUrf, II, S.124

Dass spätere Muǧtahidūn (pl. von Muǧtahid) mit Blick auf diese Tatsache in zahlreichen Angelegenheiten ihren Vorgängern aufgrund einer neuen ʿUrf-Wahrnehmung widersprochen haben, zeigt sich unter anderem in folgenden Beispielen: 

1. Nach der hanafitischen Rechtsschule ist es nicht gestattet für gottesdienstliche Handlungen wie beispielsweise das Vorbeten als Imam, dem Unterrichten von Koranrezitation oder der Tätigkeit als Muezzin (Gebetsrufer) eine Entlohnung zu erhalten. Denn diese Dinge gehören zur Dienerschaft, also zu den gottesdienstlichen Handlungen gegenüber Gott. Diese normative Bestimmung (ḥukm) war der frühen Zeit der führenden Muǧtahidūn und der Rechtsschul-Imame (Formative Phase der islamischen Normenlehre) entsprechend, denn zu der damaligen Zeit war es so, dass diejenigen, die ihre Zeit für Dienstleistungen im Bereich religiöser Dienste opferten und währenddessen nicht gleichzeitig für sich selbst sorgen konnten, vom Bayt al-Māl (eine Art Staatskasse des islamischen Reiches) eine entsprechende finanzielle Unterstützung bekamen, sodass sie nicht abhängig von anderen waren. Später wurden derartige Unterstützungen unterbrochen, sodass die im Bereich derartiger freiwilliger Dienste tätigen Menschen teilweise gezwungen waren, ihre Zeit für den Verdienst ihres Lebensunterhaltes zu nutzen. Dies führte wiederum zu einer Vernachlässigung öffentlicher religiöser Dienste und Studien. Unter Berücksichtigung der Umstände, welche sich in dieser Angelegenheit mit Blick auf früher änderten, sprachen sich spätere hanafitische Muǧtahidūn für die Fatwā (Rechtsgutachten) aus, nach welcher die Entlohnung derer, die sich in öffentlich-sozialen religiösen Dienstleistungen (wie Imame, Muezzins und Koranschullehrer) engagieren, gestattet wird. In der schafiitischen Rechtsschule wurden diese Angelegenheit bereits von Anfang an als Dienstleistungen betrachtet, für welche eine finanzielle Entlohnung als erlaubt betrachtet wird. (Vgl. Zakiyyuddīn aš-Šaʿbān, Uṣūl al-fiqh al-Islamī, S. 179; Muḥammed Abū Zahra, Uṣūl al-fiqh S.276) 

2. Theoretisch wird etwas Anvertrautes nur dann erstattet, wenn dies durch vorsätzliche Beschädigung oder fahrlässigen Umgang notwendig wird. Da jedoch mit der Zeit das Vertrauen einander gegenüber nachgelassen hat, Schädigungen sich vermehrt haben und das Vertrauen in dieser Hinsicht immer öfter missbraucht worden ist, wurde das Prinzip der Erstattung von Waren und Gütern etabliert, wonach derjenige Geschäftspartner oder unter Umständen auch Angestellter, der die Verantwortung für einen Verlust oder eine Beschädigung trägt, selbst für diesen aufkommen muss. Dies hat zum Ziel vorsätzlichen und fahrlässigen Missbrauch zu verhindern. 

3. Laut Abū Ḥanīfa ist ausgehend vom Hadith des Propheten (s.a.s.) „Muslime sind einander gegenüber aufrichtig.“ (Vgl. Ibn Qaiyim al-Ǧauziya, Iʿlām al-muwaqqiʿīn ʿan rabb al-ʿālamīn, I, S.30.) die Prüfung der Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit von Zeugen (bei Zeugenaussagen) nicht erforderlich. Diese Beurteilung entspricht der Zeit Abū Ḥanīfas. So nahm in späterer Zeit das Lügen und Falschaussagen unter den Menschen zu, weshalb Abū Yūsuf und Muḥammad aš-Šaibānī (die Schüler Abū Ḥanīfas) sich dafür aussprachen, dass bei richterlichen Beschlüssen die Prüfung der Zuverlässigkeit von Zeugen eine Bedingung darstelle. (Vgl. Muḥammed Abū Zahra, Uṣūl al-fiqh S.266) 

 

Tradition 

Allgemein betrachtet wird unter Tradition in der Regel die in einer Gesellschaft, Gemeinschaft oder Kultur etablierte und weitertradierte Gesamtheit sprachlicher und nicht-sprachlicher Gepflogenheiten, Konventionen, Glaubensvorstellungen, Bräuche und Sitten verstanden, welche im Unterschied zu Instinkten in der Zeit auftreten und nicht angeboten sind. Im islamischen Verständnis wird ʿUrf ausgeprägter verstanden, da dieser Begriff stärker etablierte Traditionen und Sitten impliziert. 

Traditionen und Sitten stellen gewisse soziale Handlungsmuster in verschiedenen Bereichen des Lebens dar. Diese von früheren Generationen aufgenommene und weitertradierten Gewohnheiten und Gedanken können nicht pauschal als schädlich oder nützlich bewertet werden. So führen manche von ihnen zu Konflikten und Degenerationen während manch andere nützlich für den Fortbestand und die Harmonie im gesellschaftlichen Leben sind. 

In der westlichen Literatur wird die Tradition beziehungsweise die Gewohnheit häufig als „soziales Erbe, welches sich nur schwierig ändern lässt und eine Bindung zu früheren Gesellschaften darstellt“ beschrieben. Das Verhältnis zwischen Adaption an die Gegenwart und Orientierung am Usus früherer Generationen ist von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich. Manche Soziologen merken an, dass Revolutionen kulturelle Gewohnheiten einer Gesellschaft aufheben. Dennoch sieht man selbst nach den stärksten Revolutionen gewisse Traditionen und Sitten bestehen. (Vgl. H. Ziya Ülken, Sosyoloji Sözlüğü, Istanbul 1969, S. 115) 

Eine in den modernen Gesellschaftswissenschaften allgemein behandelte Thematik ist das Phänomen der Entwicklung sozialer Wertevorstellungen. Dies bedeutet auch zwangsläufig einen Wandel in der Kultur. So beschreibt Maurice Duverger, wie traditionelle Werte einer Kultur mit jedem Tag stärker von neu auf die Kultur einwirkenden Gedanken, Handlungsweisen und Gestaltungen verdrängt werden. Da diese manchmal nur der bestehenden Kultur hinzugefügt werden, komme es in solchen Fällen zur schlichten Ansammlung. Doch in den meisten Fällen bedingen neue Werte das Ersetzen älterer Aspekte der Kultur beziehungsweise Tradition. Auf diese Weise sei ihm zufolge jede Kultur stetig in einem Entwicklungsprozess. (Vgl. Maurice Duverger, Siyaset Sosyolojisi, Istanbul 1975, S.124) 

Derartige Vorstellungen führten zu pauschalisierenden und undifferenzierten Perspektiven in der westlichen Welt gegenüber kultureller Traditionen, was vor allem auch vor dem Hintergrund der mittelalterlich-christlichen Geistesgeschichte zu tun hat, welche besonders nach der Zeit der Aufklärung als Anlass dafür diente, die gesamte Vergangenheit des christlichen Europas zu verteufeln. In der islamischen Geschichte hingegen ist meistens zu beobachten, dass entsprechend dem islamischen Verständnis eine differenzierte Betrachtung kulturell-traditioneller Werte und Bräuche vorgenommen wurde, sodass aus nützlichen und vernünftigen Werten der Tradition profitiert wurde. Dies ist daran zu erkennen, dass die äußerst vorbildlichen Wertevorstellungen der Ära des Propheten Muhammad (s.a.s.) und seiner Gefährten über die Jahrhunderte versucht wurden aufrechtzuerhalten. So stellt der Islam und daraus resultierend auch die Vernunft für Muslime den Maßstab dafür dar, was aus kultureller Tradition auf einer Seite und der Moderne auf der anderen Seite als verwerflich oder aber als nützlich erachtet werden soll.

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