Warum glauben Sie an das Phänomen der „Besessenheit durch Dschinn“, obwohl manche Gelehrte das bezweifeln?

Antwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

diese Frage berührt sowohl den Bereich des islamischen Glaubens als auch der theologischen Auslegung. Es gibt hierzu unterschiedliche Positionen unter den Gelehrten. Wir möchten dir die islamische Sichtweise gestützt auf Qur’an, Hadithe und klassische Kommentare zusammenfassen.

1. Was sagt der Qur’an? Die betreffende Stelle ist Sure al-Baqara, Vers 275, worin es über Zinsen (also unislamische Geldbewegungen) heißt: Diejenigen, die Zins verschlingen, werden nicht anders aufstehen als jemand, den der Satan durch Wahnsinn hin und her schlägt. Dies (wird sein), weil sie sagten: „Verkaufen ist das gleiche wie Zinsnehmen.“ Doch hat Allah Verkaufen erlaubt und Zinsnehmen verboten. Zu wem nun eine Ermahnung von seinem Herrn kommt, und der dann aufhört, dem soll gehören, was vergangen ist, und seine Angelegenheit steht bei Allah. Wer aber rückfällig wird, jene sind Insassen des (Höllen)feuers. Ewig werden sie darin bleiben.

Diese Formulierung „den der Satan durch Wahnsinn hin und her schlägt“ wurde von manchen Gelehrten als wörtlich verstanden, andere wiederum sahen sie als bildlichen Ausdruck (metaphorisch) für einen geistigen Zustand.

2. Verschiedene Meinungen der Gelehrten und ihre Auslegung: Imam Maturidi ist einer der größten Theologen der sunnitischen Richtung. Er sieht in seiner „Ta’wilatu’l-Qur’an“ diese Beschreibung als symbolisch – eine Darstellung des inneren Chaos und der psychischen Verwirrung der Bezieher von Zinsen am Tag der Auferstehung. Ebenso deutet Imam at-Tahawi an, dass zwar Einflüsterungen (waswasa) durch Jinn real sind, aber eine direkte physische Besessenheit nicht zweifelsfrei bewiesen sei. Dem entgegen stehen viele klassische Tafsir-Gelehrte wie Fahreddin Razi, Ibn Kathir, Ibn Ashur, al-Qurtubi oder at-Tabari, die eine reale „Besessenheit durch Jinn“ nicht ausschließen, sondern im Gegenteil als bekannte Realität akzeptieren, besonders gestützt auf Erfahrungen aus der Praxis.

Auf Basis der Qur’anverse, der Sunna und mehrerer klassischer Gelehrter wird die Möglichkeit, dass Jinn Menschen beeinflussen oder sogar „besetzen“ können, nicht kategorisch ausgeschlossen. Die islamische Theologie erlaubt hier Unterschiede in der Auslegung. Manche sehen es metaphorisch, andere wörtlich. Was jedoch alle anerkennen, ist die Tatsache, dass Jinn und der Satan den Menschen Einflüsterungen geben können (vgl. Sure an-Nas). Diese Art der Beeinflussung ist uns bekannt, wobei man hier womöglich eher von "Versuchung" reden sollte, da immernoch der Mensch sich aktiv entscheidet, etwas zu tun, bzw. den Versuchungen freiwillig folgt. 

nicht jeder psychische Zustand ist automatisch eine übernatürliche Besessenheit. Das ist wichtig zu differenzieren. Der Islam fordert Umsicht, medizinische Abklärung und keine schnellen Urteile. Durch die Medizin wissen wir, dass der Mensch teilweise die außergewöhnlichsten Krankheitsbilder und Symptome aufweisen kann. Man kann möglicherweise folgende Faustregel formulieren; da der Einfluss von Jinn - wenn überhaupt - extrem selten ist, sollte man diese Möglichkeit zunächst ignorieren und alle medizinischen Erklärungsversuche heranziehen, ehe man an einen Einfluss eines Jinn denkt.   

 

Fragen an den islam

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